13. - 16. Februar 2024 // Nürnberg, Germany

VIVANESS Newsroom

Verpackungsmüll: Die neue Kompromisslosigkeit der „Jungen Wilden“

Junge Frau steht mit ernstem Blick vor einer Müllhalde, in der Hand ein Pappschild mit der Aufschrift „Act now“
Junge Naturkosmetik-Marken fordern, das Plastik- und Müllproblem konsequent anzugehen // © iStock_Halfpoint

„Wenn es uns gelingt, beim Thema ‚100 Prozent plastikfrei‘ quer zu denken und Lösungen zu finden, dann sollten es große Konzerne auch können. Es ist nur eine Frage des Willens und der Investitionsbereitschaft“, nimmt Natalie Richter, Geschäftsführerin des Hamburger Naturkosmetik Start-ups terrorists of beauty, die Branche in die Pflicht. „Zero Waste ist ein Ansatz, der vom Gesetzgeber in allen Aspekten gefördert werden müsste, um den zum Teil völlig unnötigen Verpackungsmüll zu eliminieren oder zumindest zu minimieren“, fordert hingegen Zeno Kakuschke, Geschäftsführer und Mitgründer der hinter dem Social Start-up NICAMA stehenden Apinima GmbH, von der Politik. Junge Marken rütteln mit ihrer Kompromisslosigkeit die Kosmetikbranche wach und sehen auch im Bereich Naturkosmetik noch viel Potential für Verbesserungen. Wir haben mit den „Jungen Wilden“ über das Plastikproblem und das Trendthema Zero Waste gesprochen.

Vor der Coronapandemie passte der Müll von Shia Su und ihrem Lebenspartner in ein 1,5 Liter Mehrwegglas – wohlgemerkt der Rest- und Plastikmüll eines ganzen Jahres. Insbesondere dank Coronatests und Einwegmasken sollen es jetzt wohl ungefähr sechs Gläser sein. Das Experiment der Nachhaltigkeits-Bloggerin zeigt, was möglich ist. Im Vergleich dazu zeigen die Zahlen des Statistisches Bundesamtes, was nötig ist: Im Jahr 2019 verursacht der Durchschnittsbürger und die Durchschnittsbürgerin 302 Kilogramm Hausmüll im Sinne von Restmüll und Wertstoff-Müll wie Papier, Plastikverpackungen und Glas .[1]„Längst gibt es hervorragende Zero Waste Produkte als Alternative zu klassischen Artikeln und ein moderner Unverpackt-Laden bietet alles, um ein glückliches Leben zu führen. Zero Waste und Unverpackt sind skalierbar – wenn die Verbraucher:innen es möchten“, sagt deshalb auch Gregor Witt, Vorstand von Unverpackt e.V. 

Danila Brunner, Director BIOFACH und VIVANESS: „Unverpackt und Zero Waste boomen! Was als Nischenthema begann, gewinnt über die letzten Jahre zunehmend an Bedeutung. Im Markt, und als Abbild des Marktes auch auf VIVANESS und BIOFACH, sprich im Bereich Kosmetik genauso wie bei den Lebensmitteln. Wir merken das zum Beispiel durch immer mehr Aussteller mit einem entsprechenden Angebot. Für die BIOFACH bündeln wir dieses 2022 erstmals gemeinsam mit dem Partner Unverpackt e.V. in einem eigenen Messe-Bereich. Sowohl auf der Weltleitmesse für Bio-Lebensmittel, als auch auf der Internationalen Fachmesse für Naturkosmetik, VIVANESS, gibt es 2022 wieder viel zum Thema Unverpackt und Zero Waste zu entdecken, nicht nur bei den Herstellern selbst, unter anderem am Neuheitenstand, sondern auch im Kongress!“

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Dass der zum Ausdruck gebrachte Veränderungswille der Bürgerinnen und Bürger einen Einfluss hat, glaubt auch Dr. Melanie Kröger: „Vor rund 30 Jahren war das Thema Müllvermeidung schon mal sehr groß. Die Politik reagierte damals mit einer Verpackungsordnung, die wiederum unter anderem zu unserem als ‚Der Grüne Punkt‘ bekannten Dualen System geführt hat. Seit 2014 bekommt das Thema – auch getrieben von den damals entstandenen und zunächst nicht wirklich ernstgenommenen ersten Unverpackt-Läden – wieder einen frischen Schwung und eine neue gesellschaftliche Relevanz.“ Melanie Kröger ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Nachhaltige Unternehmensführung in der Agrar- und Ernährungswirtschaft an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und hat sich im Rahmen eines dreieinhalbjährigen Forschungsprojekts mit der Idee des verpackungsfreien Supermarkts auseinandergesetzt sowie Ende 2020 beim Oekom-Verlag den Sammelband „Einfach weglassen?“ mit Fachartikeln zur Thema Reduktion von Plastikverpackungen im Lebensmittelhandel herausgegeben. Heute gibt es rund 400 Unverpackt-Läden in Deutschland und auch viele Supermärkte experimentieren mit entsprechenden Abteilungen. „Unverpackt-Läden sind nur die Spitze des Eisbergs. Das Thema Verpackungsreduktion spricht mittlerweile sehr viel breitere Bevölkerungsgruppen an, die Supermarktketten haben entsprechende Strategien in der Umsetzung und auch im Mehrwegbereich tut sich einiges“, so Kröger. Sie sensibilisiert aber für die Komplexität der Prozesse im Hintergrund, aber auch für deren Relevanz. Rund die Hälfte des Verpackungsaufkommens sei für die Verbraucherinnen und Verbraucher unsichtbar, falle also auf dem Lebensweg der Produkte an und nicht erst in der eigenen Wohnung. Auch seien Innovationen und Veränderungen nötig. Was sagen nun junge Naturkosmetik-Marken zum Thema Plastikmüll und Zero Waste und welche Lösungsvorschläge beziehungsweise Forderungen an Branche und Politik haben sie?

Plastik? Nein danke!

„Wir setzen ‚plastikfrei‘ kompromisslos um“, erklärt Natalie Richter und ergänzt ein wenig kämpferisch: „Als terrorists of beauty verstehen wir uns als Herausforderer der Beauty Branche und wollen aufzeigen, dass es möglich ist, plastikfreie Produkte erfolgreich zu vermarkten!“ Das Hamburger Start-up hat keine Artikel im Programm, der auch nur einen Hauch Plastik enthalten. Die festen Seifen werden in einer minimalistischen Kartonverpackung verkauft. Die Accessoires sind plastikfrei hergestellt aus Beton oder Bio-Baumwolle und alle Verkaufsverpackungen arbeiten mit natürlichen, plastikfreien Beschichtungen oder Fettbarrieren. „Aber es ist eine Herausforderung, plastikfrei zu arbeiten und zu denken! Aktuell arbeiten wir an neuen, flüssigen Produkten. Was für eine Challenge“, so Natalie Richter. Eine Glasflasche ist natürlich schnell gefunden, aber ein Verschluss-System zu entwickeln, das 100 Prozent plastikfrei ist, ist schon schwerer. Denn selbst ein verstecktes Plastik-Inlay im Deckel eines Metall-Schraubverschlusses käme für die terrorists of beauty nicht in Frage.

Beim Social Start-up NICAMA sieht es ähnlich aus: „Konsequent plastikfrei bedeutet bei NICAMA, dass wir gänzlich auf Plastik verzichten – sowohl bei den Inhaltsstoffen als auch bei Produkt- und Versandverpackungen“, erklärt Zeno Kakuschke, Geschäftsführer und Mitgründer der hinter NICAMA stehenden Apinima GmbH. Die Dresdner wollen mit ihrem Handeln nicht nur auf die globale Plastikkrise aufmerksam machen, sondern entwickeln plastikfreie Alltagsprodukte als Alternativen. So versuchen sie dazu beizutragen, dass die Konsumentinnen und Konsumenten ihren individuellen Plastikverbrauch minimieren. Gleichzeitig finanzieren sie transparent pro Produktkauf die Bergung von Plastikmüll in küstennahen Regionen. Die größten Schwierigkeiten im Hinblick auf den globalen Plastikkonsum sieht Zeno Kakuschke zum einen in der Entwicklung von plastikfreien Alternativen beim Thema Packaging, da vor allem in der Lebensmittel- und Kosmetikbranche hohe Anforderungen erfüllt werden müssten. Zum anderen wäre der Umgang mit Plastikmüll am Ende des Kreislaufs im Hinblick auf Abfallmanagement und Recycling dringend zu klären. Seine Forderung an die Politik: „Ich befürworte eine Plastiksteuer vor allem bei Einwegplastik und sogenanntem Virgin-Plastik, also ‚Neu-Plastik‘, das nicht durch Recycling hergestellt wurde! Damit kann effektiv die Plastiknutzung in kritischen Bereichen wie Verpackung, Einwegartikel oder Neuprodukte durch Regulierung reduziert werden. Auch den Ausbau von Pfandsystemen erachte ich als dringend notwendig. Ich verstehe nicht, warum beispielsweise das deutsche Pfandflaschensystem nicht auf europäischer Ebene umgesetzt wird.“

Zero Waste? Zumindest Circular Economy!

Zeno Kakuschke sieht ein konsequentes Zero-Waste-Konzept unter den aktuellen Regelungen als unrealistisch an, da derzeit gültige Verpackungsschutzfunktion, Verpackungsvorschriften und Kennzeichnungspflichten in vielen Fällen nicht eingehalten werden können. Umso wichtiger erscheint ihm deshalb das Thema Kreislaufwirtschaft, das im Kontext von Verpackungen dazu beitragen könnte, dass Verpackungsmüll zumindest nicht sinnlos verbrannt wird oder auf Mülldeponien landet. Aber auch für andere Verpackungsprobleme hat er Ideen: Einfach zugängliche digitale Produktdatenbanken könnten dabei helfen, dass sich Kundinnen und Kunden über relevante Produkteigenschaften und Inhaltsstoffe informieren. Auch die Incentivierung der Verbraucherinnen und Verbrauchern für die Nutzung von eigens mitgebrachten Mehrweg-Transportverpackungen sei eine Option (z.b. Rabatt bei Mitbringen eines eigenen Kaffeebechers oder Einkaufstüten) und die Entwicklung hin zu verbrauchsabhängigen Müllentsorgungskosten pro Haushalt hält er für wirkungsvoll.

„Die allgemeine Wegwerfkultur in der Beauty-Branche ist ein riesiges Problem, das trifft auch nach wie vor auf das Naturkosmetik-Segment zu“, beklagt Natalie Richter. Richtig schlimm sei es, wenn Verpackungen aus Compounds gefertigt sind – also Verbundverpackungen aus verschiedenen Werkstoffen, die dadurch nicht wieder recycelt werden können. „Was hilft es mir, wenn ich zum Beispiel einen Anteil Holz in der Verpackung habe, dieses Material aber untrennbar mit einem Polymer vermischt oder verklebt wurde? Diese Verpackung kann am Ende nur noch verbrannt werden“, so Natalie Richter. Sehr viele Marken würden ihren Kundinnen und Kunden durch nachhaltige Verpackungselemente suggerieren, dass es eine nachhaltige Verpackungslösung sei. Dafür müssten Verpackungen aber aus uniformen Materialien bestehen und korrekt gekennzeichnet sein, damit sie wieder recycelt werden können. Das gelte für Flaschen genauso wie für Papierverpackungen. Langfristig müsse es das Ziel sein, dass man gar keine Wegwerf-Elemente mehr in seinen Produkten hat und sich in Richtung einer Circular Economy bewegt. „Aktuell arbeiten wir an einem anderen Produkt, bei dem wir genau diesen Weg gehen möchten: Statt Verpackungselemente zu entsorgen, sollen sie von Kundinnen und Kunden mehrfach genutzt werden. Wenn sie den Artikel irgendwann nicht mehr brauchen, übernehmen wir als Firma die Verantwortung für unsere Verpackung, nehmen sie zurück und recyceln sie in unserem eigenen Produktions-Kreislauf und es werden wieder neue Verpackungen daraus“, kündigt Natalie Richter an.

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Wie wird (oder muss) es also weitergehen?

Für Verpackungsexpertin Carolina E. Schweig, Inhaberin von C.E.Schweig Verpackung Material Engineering, ist Zero Waste „nice to have“. Ihrer Meinung nach müssen größere Räder gedreht werden, um echte Veränderungen zu bewirken: „Die Branche muss sich vor dem Hintergrund von Rohstoffmangel, Klimakrise und Müllproblem in puncto Verpackung die Fragen stellen: Woher bekommen wir unsere Verpackungsrohstoffe, wie werden sie aufbereitet und was passiert mit damit nach der Nutzungsphase?“ Sie fordert dafür ein viel intensiveres Hineindenken in die verschiedenen Prozesse und die stofflichen Besonderheiten, die mit der Herstellung und dem Recycling von Verpackungen einhergehen. „Die Unternehmen, die jetzt lediglich nach günstigen Wegen suchen, um Recyclingvorgaben zu erfüllen, statt wirklich in sinnvolle neue Wege zu investieren, vergessen, dass es dabei um den Rohstoff geht, mit dem sie künftig neue Verpackungen herstellen wollen und müssen. Das wird aber über den Bumerang der Ressourcenknappheit und -verteuerung direkt zu ihnen zurückkommen und da treffen, wo es ihnen am meisten weh tut – beim Betriebsergebnis“, ist sich Carolina E. Schweig sicher.

In einem Punkt scheinen sich Verpackungsexpertin, Wissenschaftlerin und Jung- Unternehmerin und -Unternehmer aber einig zu sein: Pseudo-Mehrweg, Pseudo-Unverpackt, Pseudo-Plastikfrei und Pseudo-Recycling oder sonstige Formen des Greenwashings müssen vermieden werden. Wenn man etwas macht, dann richtig. Natalie Richter fasst dieses „richtig“ ganz treffend mit einem Appell die Branche zusammen: „All das ist natürlich ein Kostenfaktor. So lange wirtschaftlicher Gewinn vor gesellschaftlichem Nutzen steht, werden deshalb hier weiter falsche Entscheidungen getroffen.“

Die VIVANESS 2022 – die internationale Fachmesse für Naturkosmetik – findet vom 15. - 18. Februar 2022 im Messezentrum Nürnberg statt.

[1] Quelle: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/12/PD20_511_321.html;jsessionid=DD2F5C1193F803B0F208A234AFA8E9EA.internet8741

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